Dramatikwettbewerb 2022 – Laudatio
DRAMATIKWETTBEWERB 2022: LAUDATIO FÜR SELMA KEY MATTER

Laudatio anlässlich des Dramtiker:innenwettbewerbs 2022
Rassistische Braunbären, eine untote Marie Antoinette, die Fluchtbewegungen der letzten
Jahre, Selbstoptimierung in Zeiten von Social Media, zu Besuch bei Margot Honnecker in
Chile, eine politische Österreich-Dystopie und erstaunlich häufig Verweise auf antike Stoffe
und Figuren: Die eingereichten Texte waren an Themen und Formen sehr vielfältig. Unser
Herz in dieser reichhaltigen Auswahl erobert hat die Dramatiker:in Selma Matter mit dem Text:
Helena oder stay safe and stay sorry
Die beiden Hauptfiguren, Helena und Menelaos, sitzen in einer schäbigen Berliner Wohnung
und der erste Dialog führt einen zunächst mal richtig in die Irre. Helena war mit einem
gewissen Paris auf Kreuzfahrt und wirkt nicht so wirklich glücklich darüber, wieder bei
Menelaos zu sein. Der hält ihr Vorträge über die ökologische Unverträglichkeit von
Kreuzfahrten – oder meint er eher die Unverträglichkeit ihrer Beziehung mit dem Flirt von
Helena und Paris? Es scheint sich also auf den ersten Blick um eine moderne Überschreibung
des Helena-Mythos zu handeln, um ein klassisches Beziehungsdrama.
Aber schnell taucht von außen ein Störfaktor auf, der die Handlung in völlig andere Bahnen
lenkt: ein Waschbär. Er wohnt vor dem Haus und ernährt sich von den Essensresten, die die
Menschen wegwerfen. Davon produzieren diese reichlich, denn Essen scheint das einzige zu
sein, worauf sich Helena und Menelaos noch einigen können. Was wiederum weitere
Waschbären anzieht, die nach und nach nicht nur die Umgebung sondern auch das Haus
besetzen. Und dabei das ohnehin schon angespannte Nervenkostüm des Paares zunehmend
zerrütten.
Menelaos fällt natürlich nichts Besseres ein als Krieg gegen die Waschbären zu führen.
Helena hingegen scheint sich für die totale Auflösung oder „Waschbärisierung“ ihrer Existenz
zu entscheiden. Während Menelaos sich also für die Lösung der menschengemachten
Probleme hält, glaubt Helena eher, der Grund allen Übels zu sein.
Selma Matter beschreibt mit einer großen erzählerischen Kraft Figuren, die einen in ihren
Wendungen immer wieder überraschen und entwirft dabei szenische Vorgänge, die sofort
Lust machen, sie auf der Bühne zu sehen. Dabei changiert ihre Sprache zwischen schnellen
direkten Dialogen und sprachlich lyrischen aber in ihrem Erkenntnisgewinn zerstörerischen
Selbstreflexionen.
Wie reagieren auf all die Katastrophen, die wir durch unseren Lebensstil auslösen?
Selbstauflösung oder Kampf? Und ist es nicht auch eine ordentliche Portion Hybris, sich
selbst als das Problem zu sehen ohne die gesellschaftliche Dimension anzuerkennen?
All diese Fragen schweben über dem Text während wir Helena von unfassbarer Gefräßigkeit
zur physischen Selbstauflösung folgen und Menelaos dabei, wie er auf der Suche nach einer
Lösung für das Chaos um ihn herum die ganze Welt anzündet. Oder zumindest Berlin.
Ist es eine Dystopie oder eher Utopie? Schwer zu entscheiden. Vielleicht geht es der Welt
auch besser, wenn die Waschbären sie übernommen haben. Selma Matter entlässt uns nicht
mit aktivistischen Handlungsanweisungen, sondern gibt vielmehr unserem Unbehagen
angesichts des Zustands der Erde eine Stimme und eine poetische Dimension. Mit der Frage,
was die adäquate Reaktion auf diese vielfältigen selbst produzierten Krisen sein könnte, wirft
sie uns auf uns selbst zurück. Interessante Figuren, eine spannende und in ihren Wendungen
überraschende Handlung, die bei aller literarischen Überhöhung ein höchst akutes
gesellschaftliches Problem beschreibt: Was will man mehr?
Wir gratulieren herzlich zum Dramatikpreis für Politik und Menschenrechte, der mit 3000
Euro dotiert ist.
Die Jury
Matthias Egerdörfer Sascha Kölzow, Elina Lukijanova, Maren Zimmermann

Die Jury hat folgenden Text auf den ersten Platz gewählt: „HELENA ODER: STAY SAFE AND STAY SORRY“ VON SELMA MATTER
45 Einsendungen deutschsprachiger Dramatiker*innen zum Thema ICIHICHICH wurden von der Jury gesichtet und diskutiert. Im Anschluss an die feierliche Preisübergabe wurde der Text des/der Gewinner*in zum ersten Mal öffentlich von Schauspieler*innen vor Publikum gelesen. Der Preis ist mit 3000 Euro dotiert.
JURY 2022:

Maren Zimmermann
Jury Präsidentin
Maren Zimmermann studierte Deutsche Sprache und Literatur sowie Musikwissenschaft. Nach Stationen als Schauspieldramaturgin in Erfurt und Karlsruhe war sie von 2000 bis 2011 am Staatstheater Nürnberg engagiert. Seitdem ist sie freiberuflich tätig, u.a. für das Ballett des Salzburger Landestheaters, die Sabunkaran Theatre Group in Sulaymaniyah / Irak und diverse Literaturfestivals des Autors Albert Ostermaier. Als Autorin veröffentlichte sie bisher in den Bereichen Tanz, Schauspiel und Fußball.
Foto: Ludwig Olah
MATTHIAS EGERSDÖRFER
Jury Mitglied
Matthias Egersdörfer schreibt und liest gerne. In Nürnberg hat er einmal freie Malerei studiert. In seiner Steuererklärung steht bei Berufsbezeichnung: Kabarettist.
Foto: Natalie de Ligt
Sascha Kölzow
Jury Mitglied
Sascha Kölzow, geboren 1982 in Hagen, studierte was mit Medien an der Universität der Künste Berlin und der Universidad de Sevilla (Spanien). Während des Studiums war er in der Werbebranche, aber auch in diversen Theaterproduktionen tätig, spielte in einem Horrorfilm mit und hospitierte am Schauspielhaus Zürich und am Schauspiel Essen. Als Dramaturgieassistent war er von 2008 bis 2010 am Schauspiel Essen und 2010 bis 2012 am Schauspielhaus Bochum engagiert, wo er 2012 Dramaturg wurde. 2014 bis 2017 war er Schauspieldramaturg am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, kehrte 2017/2018 kurz ans Bochumer Schauspielhaus zurück und zog dann nach Nürnberg. Hier ist er seit der Spielzeit 2018/2019 Dramaturg im Schauspiel des Staatstheaters. Im ensemble-netzwerk mitveranstaltete er von 2014 bis 2019 die jährliche „Konferenz Konkret“ zur Rettung des Stadttheaters und ist Mitgründer des dramaturgie-netzwerks.
Foto: Konrad Fersterer
Elina Lukijanova
Jury Mitglied
Elina Lukijanova (*1983 in Moldau) ist eine Komponist:in mit moldawischen, russischen und friesischen Wurzeln. Zunächst studierte sie in Enschede (Niederlande) Songwriting, später beschäftigte sie sich im Selbststudium mit Instrumentenbau, Elektronik und dem Schreiben von Lyrik. Sie nahm ihr Studium an der Hochschule für Musik in Karlsruhe auf in Komposition bei Wolfgang Rihm und Markus Hechtle sowie parallel dazu Musikinformatik bei Thomas Troge und Christoph Seibert.Elina Lukijanovas Werke beziehen sich zuweilen auf Bildende Kunst, eigene lyrische Arbeiten, Texte anderer Autor*innen und philosophische Arbeiten. Sie legt ihr Augenmerk auf Texturen, auf Prozesse des physischen Schaffens und Erfindens, seien es eigene Instrumente, oder Ideen digitaler und rekursiver Umgebungen.Elina Lukijanova versteht sich als genderfluid und bevorzugt im Deutschen das Pronomen “sie”.
Foto: Villa Concordia © Maria Svidryk